Am 16.10 waren die Carrigans, Ranger Morgan und Ranger Ashbury nach Austin aufgebrochen, wo sie noch einen kurzen Aufenthalt hatten, bis die Reise nach Washington D.C. weiterging. Unmengen von Gepäck wurde gerichtet und neben den Rangern wurde das Ehepaar auch von ihrem Hausmädchen Martha und ihrem Butler James begleitet. Nachdem all die Truhen, Koffer und Taschen im Zug untergebracht waren, begaben sich auch Matthew und Rachel in das Abteil der ersten Klasse. Es würde eine sehr lange Zugfahrt werden und Rachel begann es sich bequem zu machen und die Tasche, die sie bei sich trug im Fach über ihrem Kop zu verstauen. In Washington wird es wahrscheinlich um einiges kälter sein als hier in Texas, dachte sie. Aber es würde sich schon das Passende zu Anziehen finden und falls es im Zug zu kühl werden würde, hatten sie einen kleinen Ofen im Abteil. Etwas irritiert hatte Victoria neben Timothy zwischen den ganzen Gepäckstücken gestanden und versucht, in dem ganzen Getümmel trotz ihrer geringen Größe über die Taschen und Truhen hinweg ein Auge auf das Gouverneursehepaar zu halten. Als endlich etwas Ruhe eingekehrt war und der Zug rollte, stand sie immer noch unschlüssig vor der Tür des Abteils und betrachtete durch das matte Glas der Abteiltür Rachel bei ihren Versuchen, die große Tasche in dem Fach über ihr zu verstauen. "Hast du eigentlich eine Fahrkarte für die 1. Klasse?" fragte sie unvermittelt ihren Vorgesetzten. "Ich meine - ist es notwendig für uns, eine zu haben, wenn wir hier im Flur stehen? Wir können doch nicht einfach 1. Klasse fahren...?" Davon abgesehen, dass sie gar nicht genug Geld dafür hatte und auch kein Formular zur Hand, um die Gebühr dem HQ in Rechnung zu stellen, wusste sie, dass ihr Stand nicht annähernd hoch genug war, sich in dieser Klasse sehen zu lassen. Nachdem Matthew Rachel mit der Tasche geholfen hatte, ging diese zur Tür des Abteils und fragte die beiden Ranger: "Wollen Sie nicht reinkommen? Es wird eine ziemlich lange Fahrt werden, da sollten Sie nicht die ganze Zeit im Gang stehen!" Rachel schaute die beiden erwartungsvoll an. Sie hatte keinen Schimmer warum die beiden tatsächlich noch draußen standen. "Ja, natürlich, Sir", antwortete Victoria automatisch, warf Timothy noch einen letzten fragenden Blick zu und betrat dann das Abteil. Sie setzte sich an die Tür gegenüber von Mr. Carrigan und wartete etwas unsicher darauf, dass irgendjemand etwas sagte. Smalltalk mit einem Gouverneur gehörte nicht zu ihrer Ausbildung. "Waren Sie denn schon einmal in Washington D.C.?" fragte Rachel, um ein Gespräch in Gang zu bringen und schaute dabei die beiden Ranger an. "Ja, Ma'am, aber nur auf der Durchreise", antwortete Victoria knapp und lächelte höflich. "Viel gesehen habe ich von der Stadt bisher nicht." "Oh", meinte Rachel. "Das müssen wir diesmal dann aber nachholen. Eine wirklich hübsche Stadt. Das Weiße Haus, das Capitol, die Kirschbäume am Ufer des Potomac, das Smithsonian Institte, das aussieht wie ein mittelalterliches Schloss, die Oper,... Ich bin sehr gespannt, wie sich die Stadt verändert hat, seit ich das letzte mal dort war. Das war immerhin vor sechs Jahren und ich habe gehört, dass Washington seit dem sehr gewachsen sein soll. Und am meisten bin ich ja auf das Weiße Haus gespannt. Bisher konnte ich es nur von außen bewundern, aber diesmal habe ich ja die Ehre auch das Innere bestaunen zu dürfen. Und es ist wirklich wunderschön, also von außen zumindest, und so groß, da ist die Gouverneurs Mansion in Austin winzig dagegen." Rachel war ganz in ihrem Element. Endlich mal wieder etwas mehr Kultur uns Zivilisation als in Texas. Sie liebte zwar das Leben in ihrer neuen Heimat, war aber dann und wann doch auch froh mal wieder etwas anderes zu sehen und zu erleben. Als Rachel geendet hatte, klappte die Rangerin ihren Mund wieder zu. Von Kultur verstand sie nichts, denn in Maine war das größte, was sie bisher gesehen hatte, das Sägewerk ihrer Eltern. Banditen jedenfalls trieben sich auch sehr selten auf Promenaden oder im Weißen Haus herum, in letzterem zumindest nicht die Art von Kriminellen, die Victoria kannte. „Sicherlich ist das alles sehr interessant, Ma’am“, antwortete sie daher langsam, „allerdings glaube ich nicht, das meine Aufgabe es zulässt, mich intensiv mit hübscher Architektur und Oper auseinander zusetzen, so gerne ich es täte…“ "Naja, ich denke doch, dass es Ihre Aufgabe ist, uns auf Schritt und Tritt zu begleiten und das beinhaltet nun auch einmal den Besuch von Museen oder Opernaufführungen", antwortete Rachel. "Wie intensiv Sie sich dann damit befassen können, kann ich leider nicht beurteilen. Aber ich denke doch, dass die Ausübung Ihrer Pflicht auf uns aufzupassen dies nicht gänzlich verhindert. Das wäre zumindest sehr schade." Rachel spürte, dass die Rangerin sich bei diesem Thema nicht sonderlich wohl fühlte und wollte daher das Thema nicht weiter vertiefen. Entweder würde Sie Gefallen daran finden oder nicht. "Erzählen Sie doch mal ein bisschen über sich", änderte Rachel das Thema. "Wo stammen Sie noch einmal her? Aus... Neuengland, oder?" Über diesen plötzlichen Gesprächswandel war Victoria überrascht und zugleich etwas überfordert. Wie lange war es her, seit sie über sich selbst und ihre Familie gesprochen hatte und nicht über irgendeine Rolle, die sie spielte? Ein Jahr? Zwei? Drei? „Äh, ja, aus Maine“, stammelte sie schließlich und holte hörbar Luft. Ob dem Gouverneur von Texas dieser Gesprächsanfang gefiel? Das sein Personenschutz ausgerechnet ein waschechter Yankee war? „Was möchten Sie denn wissen, Ma’am? Maine ist nicht sonderlich aufregend, zumindest nicht im Gegensatz zu Texas oder Washington.“ Schnell biss sie sich auf die Zunge, als diese davon galoppieren und ebenfalls Fragen stellen wollte. Es gehörte sich nicht, Mrs. Carrigan auszuhorchen, auch, wenn Ausfragen und Informationen herausfinden normalerweise Victorias Aufgabengebiet umfasste. Jetzt war es das im Moment nicht mehr – also ‚Mund halten’ sagte sie sich selbst. "Missouri war auch bei Weitem nicht so aufregend wie Texas. Wir stammen ja ursprünglich aus Saint Louis, gar nicht aus Texas." fügte Rachel erklärend hinzu, da sie nicht wusste, ob dies überall bekannt war. "War denn das der Grund, warum Sie zu den Texas Rangern gegangen sind? Ich meine, dass es in Maine nicht viel Aufregendes gibt?" Rachel war einfach neugierig und wollte mehr über die Frau wissen, mit der sie in nächster Zeit wohl sehr eng verbunden sein würde. Einerseits fand Victoria es zwar beunruhigend, so ausgequetscht zu werden, andererseits war sie belustigt, sich selbst in dieser umgekehrten Situation zu sehen. Vielleicht geschah es ihr ja Recht und die Gouverneursgattin war sicherlich eine der freundlichsten Varianten des für sie seltsamen Szenarios. "Ja, einer der Hauptgründe," gab die Rangerin ehrlich zu. "Aber wie kommen Sie aus Missouri ausgerechnet nach Texas? Ehrlich gesagt habe ich mich bisher nicht sehr viel mit Politik beschäftigt und hatte auch keine Zeit, mir vor Einsatzbeginn ihre Wahlkampagne anzuschauen."
Die letzten Worte meinte Victoria ernst und nicht ansatzweise ironisch und sie hoffte, dass Rachel und vor allem auch der Gouverneur das nicht missverstanden. "Die Tatsache, dass wir nicht mehr in Missouri sondern in Texas sind, hat eigentlich überhaupt keinen politischen Hintergrund. Um genau zu sein war es so: Vor einigen Jahren, ich glaube das war 1867, hat mein Mann bei einem Pokerspiel eine Besitzurkunde für eine Silbermine in Texas gewonnen. Wir sind dann gemeinsam dorthin gefahren, um uns mal anzuschauen, ob die Miene noch etwas hergibt. Mein Mann hat ja eine Silbemine in der Nähe von St. Louis und kennt sich damit also aus. Als wir dann in Deadwood ankamen, stellte sich heraus, dass es keine Silber- sondern eine Goldmine war, die noch lange nicht ausgeschöpft ist. So kamen wir nach Texas. Und dann wurde mein Mann in den Stadtrat berufen, danach zum Bürgermeister gewählt und hat so wohl auf sich aufmerksam gemacht, so dass man beschlossen hatte, ihn zum kommissarischen Gouverneur zu ernennen. Und letztes Jahr wurde er dann richtig gewählt. Tja, das ist unsere Geschichte." Rachel wollte Victoria nicht das Gefühl geben sie auszuhorchen. Also erzählte sie wild drauf los, da sie dachte, die meisten Leute wüssten das Ganze ja eh schon. "Ich kann Sie übrigens gut verstehen. Als mein Mann damals nach Texas reiste wollte ich unbedingt mit. Ich konnte mir nicht vorstellen wie die meisten anderen Ehefrauen einfach zu Hause zu bleiben und darauf zu warten, bi mein Mann wieder zurückkommt. Ich dachte es würde bestimmt interessant und aufregend werden. Natürlich hatte ich damals keine Ahnung, dass es mal so gefährlich werden würde, dass ich einen eigenen Personenschutz brauchen würde, aber nun ja, jetzt ist es nunmal so. Ich bin froh, dass ich dennoch einen Mann habe, der mich dann nicht einfach weit weg schickt und am besten noch zu meiner Sicherheit einsperrt, weil es für ihn gefährlich wird. Da bin ich lieber bei ihm und gebe ihm Rückendeckung. Einfach nur im stillen Kämmerlein zu sitzen und zu warten und zu beten ist nichts für mich." Damit hatte sich Rachel so ziemlich offenbart. Sie schaute ihren Mann an, um zu sehen, wie er reagierte. Aber sie hatten schon oft über dieses Thema gesprochen und obwohl es ihm nicht passte, dass sie sich mit in Gefahr begab, wusste er, dass er sie nicht davon abhalten könnte. "Eine Silbermine?" hakte Victoria noch einmal von Anfang an nach. "Was haben Sie denn beruflich, wenn man es so sagen darf, vor ihrer Reise nach Deadwood gemacht? Es ist immer interessant zu wissen, wo die Wurzeln eines jeden stecken, Ma'am. Oder ist es unpassend das zu fragen?" Zumindest würde die Antwort Victoria helfen, das Gouverneursehepaar besser einzuschätzen und ihre etwaigen Fähigkeiten in Gefahrensituationen zu improvisieren. Ob nun ein Handwerker, Kaufmann oder Landbesitzer agierte, waren völlig unterschiedliche Ansätze und vor allem Resultate. Es war gut, dass Rachel Carrigan offensichtlich ganz gerne erzählte und kein Blatt vor den Mund nahm. Sie schien eine sehr offene und ehrliche Person zu sein. "Wie gesagt hatte mein Mann in Missouri schon eine Silbermine, die recht ertragreich war. Natürlich nicht zu vergleichen mit der Goldmine in Deadwood, aber um genau zu sein wird in ihr immer noch Silber gefördert. Mein Mann hat einen entsprechenden Vorarbeiter, sowohl in St. Charles, also bei der Silbermine in Missouri, als auch bei der Goldmine in Deadwood, da er ja durch die politischen Aufgaben kaum noch Zeit für das Geschäft mit den Edelmetallen hat. Aber es läuft ganz gut und wir können uns nicht beklagen. Ich stamme aus einer Fabrikantenfamilie. Mein Vater hat eine Emaille-Manufaktur aufgebaut, wissen Sie, mit allen Arten von emailliertem Blechgeschirr und so. Dafür war die Lage in St. Louis prädestiniert, da in den letzten Jahren und Jahrzehnten so viele Siedler auf dem Weg in den Westen vorbeigekommen sind und eingekauft haben, dass mein Vater die Firma ständig vergrößern musste. Ab und zu habe ich dort in der Buchhaltung mitgeholfen und so ein paar Dinge gelernt, mit denen ich später auch meinen Mann bei der Minenarbeit unterstützen konnte. Das war sehr interessant und lehrreich." Rachel atmete einmal tief durch. "Ach, was erzähle ich Ihnen das alles, das muss sie doch langweilen!"
Victoria lächelte innerlich über den Redeschwall von Rachel und dachte bei sich, dass das Leben doch so einfach gewesen wäre, wenn die Verbrecher, die sie so oft gejagt hatte, auch so bereitwillig alles erzählt hätten. "Nein, Ma'am, es langweilt mich gar nicht - sonst hätte ich nicht danach gefragt", antwortete sie auf Rachels Frage. "Haben Sie noch Kontakt zu Ihrer Familie? Gerne würde ich mir ein paar Produktmuster anschauen, wenn ich darf, Ma'am."
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